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Ingeborg engagiert sich in ihrer Nachbarschaft 

Warum engagierst Du Dich freiwillig, was motiviert Dich?

Mit Mitte 40, die Kinder sind aus dem Haus, entschloss ich mich für ein Jahr aus meinem gesicherten Leben auszusteigen. Es reichte mir nicht mehr, Aufrufe gegen die atomare Aufrüstung zu unterschreiben oder zu demonstrieren: Ich wollte etwas tun. Ein Sabbatjahr (1981/82) gab mir die Gelegenheit, bei EIRENE in Belfast/Nordirland, einer Organisation, die international gewaltfrei für den Frieden aktiv ist, einen Friedensdienst zu leisten. Damit erlebte ich hautnah den Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten, und begegnete vielen Menschen, die sich für ein friedliches Miteinander einsetzen. Ich nahm an Trainings zu Gewaltfreiheit teil, die mir jedoch sehr theoretisch erschienen. Dieses Jahr in Nordirland war eine unglaublich intensive, emotionale Zeit und prägt mein Leben bis heute. 

Wie hat Dich diese Erfahrung weiter geprägt? Was hast Du gelernt?

Zurück in Deutschland bildete ich mich weiter, lernte Mediation und nahm über Jahre teil an Kursen in Friedenserziehung und Gewaltfreiheit in West- und Ostdeutschland. Meine freie Zeit verbrachte ich lange Jahre in Nord-Irland, später in Projekten in Süd-Italien und Bosnien.

Was machst Du in Deinem freiwilligen Engagement konkret?

Das freiwillige Engagement erfüllt mein Leben auch heute mit 85. Ich arbeite nicht mit Institutionen zusammen. Ich suche Begegnungen in der Nachbarschaft, im Flüchtlingsheim, unter den Mitbewohnern des Mietshauses, in dem ich seit Jahrzehnten wohne.

Wenige Beispiele von vielen:

  • Bei einem Besuch in einer Förderklasse für jugendliche Migrant*innen wurden auch die Konflikte innerhalb der Gruppe deutlich: Es gab unterschiedlichen Migrationshintergrund, kulturelle Prägungen und Vorurteile. Ich griff dies auf und arbeitete - mit kleinen Gruppen - zu Hause bei mir an diesen Konflikten im Sinne von Friedenserziehung weiter. Zu drei Afghanen entwickelte sich eine fortdauernde Beziehung, seit Anfang der 2000er Jahre bis heute. Das sind meine "drei afghanischen Söhne " und bis heute bin ich sehr mit ihnen verbunden.
  • Oder S., ein junger Afghane, der nach einem Bombenangriff auf sein Elternhaus mit einem Splitter im Kopf nach Deutschland kam und erfolgreich operiert wurde. Dankbar für diese Hilfe, engagiert er sich seinerseits. Seit sechs Jahren begleite ich ihn durch seine Hochs und Tiefs. Jetzt hat er ein Masterstudium mit 1,0 abgeschlossen. Und er bildet HEROES bei der AWO aus, die sich gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und für Gerechtigkeit einsetzen.
  • Ein Italiener, ein irakischer Kurde und zwei indische Studentinnen sind Mitbewohner*innen in meinem Haus. Ich unterstütze sie beim Deutschlernen und in bürokratischen Angelegenheiten. So hat sich ein vertrauensvolles Miteinander entwickelt.

Was möchtest Du als Botschaft weitergeben?

Mir ist immer wichtig, dass die Menschen selbst aktiv versuchen, ihre Situation zu verändern. "Ich will dir deinen Weg nicht vorgeben, dir nichts abnehmen, aber an deiner Seite sein, damit du deinen Weg findest." Nicht die Selbstverantwortung nehmen, sondern Beistand leisten, wo es nötig ist und sie stärken. Ich mag das Wort HELFEN nicht: Helfen schafft eine ungleiche Situation. Es ist wichtig, auf Augenhöhe zu bleiben.

Was sagst Du dazu, dass behauptet wird, Engagement mache besonders glücklich?

Ich bin glücklich, wenn ich das Gefühl habe, jemandem von Nutzen zu sein. "Ich habe immer mehr zurückbekommen als ich gegeben habe." Begegnungen zu schaffen ist mir zunehmend wichtig geworden in einer immer anonymer werdenden Gesellschaft. Ich will Mut machen, auf andere zuzugehen. Dazu dienen mir auch meine Potlucks, eine indianische Tradition des Teilens und der Gastfreundschaft. Ich lade jeweils fünf Personen ein, die ich z.T. kaum oder gar nicht kenne. Je internationaler desto interessanter. Es geht darum, sich zuzuhören. Jede/r bringt etwas zu essen mit und erzählt aus ihrem/seinem Leben. Es sind bewegende Lebensgeschichten, Gedanken, Gefühle und Vorhaben, die zu Tage treten. So bilden sich Querverbindungen und neue Freundschaften.

"Ich kann nicht erwarten, dass die Welt zu mir kommt. Ich muss auf andere zugehen, wenn mir Begegnungen so wichtig sind.“